Sven Ekdahl:
Die Flucht der Litauer in der Schlacht bei Tannenberg
Der
polnische Geschichtsschreiber Jan Dlugosz gibt in seiner Historia
Polonica eine ausführliche und lebhafte Darstellung der Flucht des
litauischen Heeres in der Schlacht bei Tannenberg.[1] Die nach
einstündigem Kampf fliehenden Litauer konnten nicht aufgehalten werden,
obwohl sie der Herzog Witold mit Schlägen und mit Zurufen
zurückzutreiben versuchte; sie flohen größtenteils in ihr eigenes Land,
wo sie die Nachricht von der Niederlage und dem Tod des polnischen
Königs Wladislaw und des Herzogs Witold verbreiteten. Die übrigen
Litauer wurden entweder niedergemacht oder gefangengenommen. Nach
einigen Stunden kehrten die verfolgenden Kreuzritter siegesfroh zurück,
beladen mit Beute und mit vielen Gefangenen. Jedoch ihr erneutes
Eingreifen in den Kampf konnte den Sieg der Polen nicht mehr verhindern.
Diese Schilderung hat auf die
Tannenbergforschung einen sehr großen Einfluß ausgeübt und findet sich
in den Grundzügen in den meisten Arbeiten wieder. Andererseits
kritisierten bereits die polnischen Historiker J. Caro[2] und S.
Kujot[3] die ihrer Ansicht nach zum Teil unrichtige Darstellung. Kujot
fragt sich, wie es möglich war, daß die Litauer an der wenige Tage nach
der Schlacht beginnenden Belagerung von Marienburg teilnehmen konnten,
und wie später die Hälfte des Heeres trotz Krankheit in ihr Land
zurückkehren konnte. Nichts deute auf eine Katastrophe bei Tannenberg
hin. Folglich verwirft er die eine Hälfte der Schilderung Dlugoszs und
meint seinerseits: das litauische Heer wird besiegt und in die Flucht
geschlagen, kehrt aber nachher zum Schlachtfeld zurück. Ähnliche
Gedanken hatte schon K. Szajnocha geäußert[4]; kritisch äußert sich
auch L. Weber: „Wir vermissen hier und in dem Folgenden die eigentliche
Erklärung der Katastrophe."[5]
Die moderne polnische Forschung
steht Dlugosz noch kritischer gegenüber. Dies gilt vor allem für S.
Kuczynski, der in seinem Werk über den „Großen Krieg" neues Licht auf
die tendenziöse Darstellung Dlugoszs wirft. Kuczynski betont, daß die
Schilderung des polnischen Geschichtsschreibers nur mit Vorsicht zu
benutzen sei.[6]
Wenn man also einerseits in den
letzten Jahren versucht hat, den Einfluß Dlugoszs zu mindern, so betont
man andererseits immer stärker die Bedeutung der sog. Cronica
conflictus.[7] Es ist hier nicht möglich, die umfassende und lebhafte
Diskussion über die Entstehung und den Quellenwert dieser Chronik
wiederzugeben: die positive Bewertung J. Caros[8], die negative F.
Thunerts[9] und K. Heveckers[10] und wiederum die positive S.
Kuczynskis[11] und H. Lowmianskis.[12] In der deutschen Zusammenfassung
seines Werkes schreibt S. Kuczynski: „So meint der Verfasser [d. h.
Kuczynski], daß im Falle eines Widerspruchs zwischen Dlugosz und der
Cronica conflictus eher der zweiten Bezugsquelle, die noch während des
Krieges in den Jahren 1409—1410 entstand, Glauben zu schenken sei."[13]
Gerade soweit es sich um den Kampf
des litauischen Heeres handelt, widersprechen sich die beiden
Chroniken. Die Forschung ist sich dessen schon längst bewußt geworden;
man hat nur nicht gewußt, wie dies zu erklären sei. Die Schilderung der
Cronica conflictus lautet: Alia
autem pars hostium ex eisdem electis crnciferorurn, hominibus cum
maximo impetu et clamore cum gente ducis Vytoldi congressa et fere per
horam preliantes mutuo inter se plurimi ex utraque parte ceciderunt,
ita quod gens Vytoldi ducis cogitur retrocedere. Et ita ipsos
insequentes existima-bant iam obtinuisse victoriam, dispersique hostes
ab ipsorum banariis in ordinacione suarum acierum erraverunt et illos,
quos retrocedere coege-rant, fugere inceperunt.[14]
Hier wird also erzählt, wie die
Litauer nach einstündigem Kampf gezwungen wurden, sich zurückzuziehen.
Dabei glaubten die verfolgenden Ordenskrieger, daß sie den Sieg schon
errungen hätten, und trennten sich von ihren Bannern, wobei die
geordnete Aufstellung der Reihen verlorenging. Schließlich wurden sie
von jenen in die Flucht geschlagen, die sie zum Rückzug gezwungen
hatten. Die Schilderung der Cranica conflictus weicht hier von der
Darstellung Dlugoszs völlig ab: nämlich die Verfolger wurden von den
Verfolgten in die Flucht geschlagen. Das weitere Schicksal der
Ordenskrieger wird ebenfalls anders dargestellt; bei Dhigosz kehren sie
siegesfroh und beutebeladen in das eigene Lager zurück. Die Cronica
conflictus dagegen berichtet: Postmodum
autem reverti volentes, a suis hominibus et banariis per homines regis,
qui directe banaria ipsorum per latera diviserunt, seclusi auf capti et
gladio perempti perierunt. Illi autem, qui de parte leva illorum, qui
divisi fuerunt, remanserant superstites, ad suos homines exercitus
hostiles reversi, iterum uniti ad invicem cum banario magno castellani
Cracoviensis, palatini Sadomiriensis, terrae Vyelyunensis, terrae
Haliciensis et aliis multis banariis convenerunt. In quorum congressu
bellum gerebatur asperrimum et multi hinc inde ceci-derunt mortui.[15]
Laut Cronica conflictus wurden also
die zurückkehrenden Ordenskämpfer durch die Polen von den eigenen
Männern und Bannern abgeschnitten und entweder gefangengenommen oder
getötet. Diejenigen aber, die von ihren Bannern nicht getrennt waren,
stießen mit den polnischen Kerntruppen zusammen, wobei ein sehr
heftiger Kampf entbrannte.
Wie soll man sich nun diese von
Dlugosz so abweichende Schilderung erklären? Wer von beiden Chronisten
hat recht? War es ein wirklicher Sieg des linken Flügels über die
Litauer, oder war es 'nur ein Scheinsieg, indem die verfolgenden
Ordensritter selbst zu Verfolgten wurden? Laut Cronica conflictus wurde
offenbar von seiten des Ordens ein taktischer Fehler begangen, den der
Feind sofort zu seinen Gunsten auszunutzen wußte.
Die polnische Forschung hat sich am
eingehendsten mit diesen Fragen beschäftigt und ist dabei zu
verschiedenen Ergebnissen gekommen. Der gegen Dlugosz polemisierende S.
Kujot brachte schon 1910 eine neue Theorie, nämlich, daß es sich nur um
eine schembare Flucht des litauischen Heeres gehandelt habe: „Offenbar
verbarg sich in ihrer Flucht so etwas wie eine tatarische List. Die
leichte litauische Reiterei, die den Platz gegen die Banner des Feindes
nicht halten konnte, lief — wie es bei ihnen häufig vorkommt — in
kleinen Haufen auseinander, um einer Niederlage zu entgehen und um die
Verfolger irrezuführen. Ohne Zweifel begannen sich die Haufen bald
danach zu sammeln, und wenig später als die vermeintlichen Sieger
befanden sie sich auf dem Schlachtfeld, wahrscheinlich neben dem Banner
von Smolensk. Das war eine litauische Methode, die Witold gut bekannt
war."[16]
Laut Kujot flieht also das gesamte
litauische Heer mit Ausnahme der Banner von Smolensk, aber es war eine
absichtliche und beherrschte „Flucht"; man sammelte sich wieder und
kehrte zum Schlachtfeld zurück.
Ähnliche Gedanken äußerte A. Kort a
in einem kleineren Aufsatz, der 1949 in einer polnischen
Offizierszeitschrift veröffentlicht wurde: „Das war keine Flucht der
litauisch-tatarischen Reiterei, sondern ein absichtliches Manöver gegen
das Aufgebot der schwerbewaffneten Reiterei der Kreuzritter und sollte
jene vom Kampfplatz fortlocken. Dieses Manöver, das häufig in der
Kriegskunst der Mongolen anzutreffen ist, war im Westen völlig
umbekannt."[17]
In der ersten Auflage seines Buches
(1955) polemisiert S. Kuczynski gegen die Auffassung Kujots, daß es
sich um eine scheinbare Flucht gehandelt haben soll: „Das war
tatsächlich eine verführerische These, aber leider wird sie durch die
Quellen nicht bestätigt. Die Methode der scheinbaren Flucht wurde
damals in ganz Europa mit kleineren Abteilungen durchgeführt. Auf diese
Weise zog auch Janusz Brzozoglowy, der Starost von Bromberg, einige
Tage vor der Schlacht bei Tannenberg eine bedeutende
Kreuzritterabteilung bei Schwetz in den Hinterhalt und vernichtete sie
völlig. Aber es ist etwas anderes, durch eine kleine Abteilung den
Feind in eine Falle zu locken und ihn mit dem restlichen Heer zu
erwarten, als dem ganzen Heer zu befehlen, eine scheinbare Flucht
auszuführen. Auf diese Weise konnten nur die speziell in diesen
Manövern geübten Tataren siegen, aber nicht ein gewöhnliches Aufgebot,
sei es auch noch so tapfer."[18]
Das einzige stärkere Argument für
eine nur schembare Niederlage der litauisch-russischen Truppen war nach
Kuczynski ihre angebliche Rückkehr auf den Kampfplatz gegen Ende der
Schlacht.[19]
Nachdem Kuczynski die Auffassung
von Kujöt zurückgewiesen und die schwere Niederlage des litauischen
Heeres betont hatte, erläutert er seine eigene Theorie. Er meinte, daß
es nur die eine Hälfte der Litauer, Tataren und Russen gewesen war, die
geschlagen wurde; die andere Hälfte dagegen war im Lager geblieben und
nahm am Endkampf teil.[20]
Die zweite Auflage des Buches
(1960) weicht in vieler Hinsicht von der ersten ab, z. T. auch in der
Darstellung über den Kampf der Litauer. Diese Unterschiede unterstrich
auch M. Biskup[21] in seiner Besprechung des Buches. S. Kuczynski
behauptet jetzt nämlich, daß das ganze litauische Heer von Anfang an am
Kampf teilnahm und daß nur der rechte litauische Flügel flüchtete,
während die Mehrzahl der Kämpfenden sich in den Wald und das litauische
Lager oder zu den rettenden polnischen Reserven zurückzog.[22]
In den Arbeiten Kuczynskis spielt
das Heer Witolds eine recht klägliche Rolle. Das hat den litauischen
Forscher C.Jurgela zu Gegenargumenten herausgefordert. Mit Hilfe der
Schilderung der Cronica conflictus macht er die alte Behauptung Kujots
wieder lebendig, daß es sich nur um eine scheinbare Niederlage
handelte: „This description of the knights of the Order's elite forces
succumbing to an illusion of victory and 'blundering' into disrupting
their battle formations to give chase to fleeing Lithuanian light
horsemen, only to be separated from their lines by the ‘king‘s men‘, to
suffer an encirclement and death, — contains all the ingredients and
earmarks, every element of perfectly executed 'Tatar tactics'. Rather
than strike in battle formations against the Polish flank exposed by
the Lithuanian retreat, the best forces of the knights — predominantly
'pil-grims' from the West Ignorant of the 'heathen tactics' — broke
their battle ranks in a wild chase and were permanently eliminated from
playing a serious part in the battle that was just beginning in the
center and farther south."[23]
Wie schon erwähnt wurde, ist hier
nicht der Platz für eine genaue und kritische Bearbeitung des
vorhandenen Quellenmaterials, obwohl diese sehr wünschenswert wäre. Es
ist auch nicht die Absicht des Verfassers, die verschiedenen Ansichten
der Forscher näher auszuwerten; mit diesem Aufsatz soll vielmehr nur
der von Dlugosz abweichenden Auffassungen über die Flucht der Litauer
gedacht und untersucht werden, ob sie sich noch durch weitere Quellen
belegen lassen. Es gibt nämlich einen Brief, der der bisherigen
Forschung noch unbekannt geblieben ist und der geeignet erscheint,
neues Licht auf diese Frage zu werfen. Es handelt sich um ein an den
Hochmeister gerichtetes undatiertes Schreiben, dessen Verfasser nicht
genannt wird. Dieser Brief wird im Ordensarchiv in Göttingen bei den
Briefen des Jahres 1413 aufbewahrt und ist in den Regesten von E.
Joachim-W. Hubatsch unter folgendem Titel verzeichnet worden:
„Ratschläge für den Fall einer Feldschlacht."[24]
Der Brief ist 12 x 30 cm groß und mißt zusammengefaltet 5,5 x 11,5 cm. Das Papier ist
sauber; wahrscheinlich, weil es in einem Umschlag gelegen hatte. Siegel
und Wasserzeichen fehlen. Die steile Schrift ist mit schwarzer oder
dunkelbrauner Tinte geschrieben; ,s' und ,s' sind sehr kräftige
Schriftzeichen, besonders charakteristisch ist das ,g'-Zeichen.
Kürzungen und Unregelmäßigkeiten sind kaum vorhanden. Der Brief ist von
einem geschickten und sorgfältigen Schreiber geschrieben worden. Obwohl
Datum und Absenderangabe fehlen, handelt es sich kaum um eine Kopie
wegen der langgezogenen Anfangsbuchstaben in der ersten Zeile und wegen
des schönen Gesamtschriftbildes.[25] Es ist deshalb anzunehmen, daß
dieser Brief zusammen mit einem anderen Schreiben, das Absenderangabe
und Datum enthielt, an den Hochmeister geschickt wurde. Daß der
Absender anonym bleiben wollte, ist weniger wahrscheinlich, und zwar
aus Gründen, die weiter unten erörtert werden sollen. Der Text lautet:
Liber her
meister, ab is got ffugete, das ir mit euwirn vinden tzu hoffe[26]
qwemet, unde ir sult euwir ding bestellen unde schigken
ken euwirn
vinden, so were unsir ratd, das ir die geste, die ir bey euch hat, die
ir dirkennet dortzu tochtig seyn, das ir die dotzu nemet,
unde bestellet mit euwirn gebitigern, das die gehorsam seyn wie sie geschigk werden, das sie do bleyben in der schigkunge.
Is muchte geschen, das euwir vinde[27] den uffsatz[28] vorsich nemen, unde lissen eyne banirh addir tzwu weychin addir
fluchtig werden: das were eyn uffsatz do mete sie meynten euwir schigkunge tzubrechen, noch deme als die luthe phlegen
gerne noch tzu yagen, als ouch geschach in dem grossen streythe. Das bestellet, ab das alzo tzu gynge, so ir aller hertiste
kunnet, das yo die euwirn in erer schigkunge bliben: wann wenne eyn huffe addir eyne schigkunge tzutrauth wirt,
so sintd die Iwthe nicht so rischlichen weddir umbe tzubrengen, wann denne eyn ydirman will yagen, unde waenth, das spil
das sey gewunnen unde wissen nicht, das is halp mag seyn vorloren. Unde dorumbe so rothe wir euch, so wir getrwlichste
kunnen, das ir die euwirn, so ir hogeste kunnet, mit eren schigkungen tzu haeffe haldet unde mit nichte von enandir losset,
so
lange bys das ir seet, wie sich euwir vinde huffe hindir dem fluchtigen
an lesset. Unde dorumbe so bestellet das fleisseclichen
mit euwirn gebitigern, das is veste gehalden werde, wann is kumpth wol das tzu angesichte in sotanem gescheffte, do XX
addir dreysig yagen, das die machin, das undirwilen vil schigkunge gebrochin werden, do man wenth undirwilen ffromen
tzu schaffen unde kumpth tzu grossem schaden.
Da
sich im Ordensbriefarchiv noch einige Briefe von der gleichen Hand
befinden, ist eine Identifizierung des Schreibers möglich. Es handelt
sich um denselben Schreiber, der — wenigstens in den Jahren 1416 und
1417 — in der Komturei Schlochau tätig war.[29] Dies schließt die
Möglichkeit aus, daß der Absender anonym bleiben wollte.
Aus der Anrede liber her meister
kann man schließen, daß der Absender kein Ordensbeamter oder
Untergebener des Hochmeisters war, sondern jemand, der einen ähnlichen
Rang wie der Hochmeister hatte: wahrscheinlich ein Fürst oder ein
Söldnerführer.[30] Der Ausdruck euwir vinde weist darauf hin,
daß der Absender nicht aus dem Ordenslande stammt, sonst hätte er
„unsere Feinde" geschrieben. Der Verfasser dieses Aufsatzes läßt die
Frage offen, ob der Verfasser des Briefes in der Schlacht bei
Tannenberg selbst mitgekämpft hat; auf alle Fälle muß es sich um einen
Mann gehandelt haben, der großes Interesse an kriegstechnischen Fragen
hatte. Auch der gewisse „Abstand" und der etwas reservierte Ton des
Briefes sprechen dafür, daß der Absender nicht in Preußen wohnte und
daß er ein Mann von gehobener Stellung war.
Der Brief kann nur nach der
Schlacht bei Tannenberg geschrieben worden sein, denn es heißt: als ouch geschach in dem g r o s s e n s t r e y t h e. Dieser
Ausdruck wird in jenen Jahrzehnten nur für die Schlacht bei Tannenberg
verwandt. Es ist außerdem recht wahrscheinlich, daB der Brief in den
ersten Jahren nach dieser Schlacht geschrieben wurde, als der Eindruck
jener Ereignisse noch lebendig war. Solange nähere Angaben über den
Schreiber fehlen, ist eine genaue zeitliche Einordnung des Briefes
jedoch nicht möglich.
Dieser Brief ist eine Warnung an
den Hochmeister.[31] Wenn es zu einem neuen Krieg kommen sollte, dürfe
nicht derselbe Fehler wie bei Tannenberg begangen werden — Is
muchte geschen, das euwir vinde den uffsatz vorsich nemen, unde lissen
eyne banirh addir tzwu weychin addir fluchtig werden: das were eyn
uffsatz do mete sie meynten euwir schigkunge tzu-brechen, noch deme als
die luthe phlegen gerne noch tzu yagen, als ouch geschach in dem
grossen streythe.
Es ist deshalb sehr wichtig, so
meint der Briefschreiber, daß der Hochmeister sehr streng darauf
achtet, daß die Leute in der Schlachtordnung bleiben, weil es sich
sonst ereignen könnte, daß jeder den Fliehenden nachjagen will und
deshalb der Kampf verlorengeht, obwohl man das Gegenteil glaubte. Unde
dorumbe so rothe wir euch, so wir getrwlichste kunnen, das ir die
euwirn, so ir hogeste kunnet, mit eren schigkungen tzu haeffe haldet
unde mit nichte von enandir losset, so lange bys das ir seet, wie sich
euwir vinde huffe hindir dem fluchtigen an lesset. Das heißt: man
muß seine Leute in Zucht halten können, bis man sicher ist, daß es sich
um eine wirkliche Flucht handelt und nicht um eine scheinbare; bis man
sieht, daß alle fliehen und nicht nur einige Abteilungen. Sonst wird
die Schlachtordnung aufgelöst und man kommt zu großem Schaden.
Das sind ernste und mahnende Worte,
die mehrmals wiederholt werden. Der Brief klingt, als ob er mit
erhobenem Zeigefinger geschrieben wurde. Der Schreiber meint: Es sei
die Aufgabe des Hochmeisters und der Gebietiger, darauf zu achten, daß
die „geste" auf ihren zugeteilten Plätzen bleiben. Vermutlich will er
damit sagen, es sollte eigentlich gar nicht nötig sein, diese Hinweise
zu geben, aber weil der Fehler nun schon einmal begangen worden sei,
dürfe er auf keinen Fall wiederholt werden.
Die Warnung an den Hochmeister
bezieht sich auf die „geste", die sich in Preußen aufhielten und die
die Kriegslist mit der gespielten Flucht nicht kannten. „Geste" kamen
aus Mittel- und Westeuropa, um dem Orden Hilfe zu leisten, und konnten
unmöglich mit osteuropäischer Kriegsführung vertraut sein.[32] Und
gerade bei Tannenberg geschah etwas, was man als eine osteuropäische
Taktik bezeichnen muß, denn eine scheinbare Flucht konnte nur von einer
leicht bewaffneten und auf schnellen Pferden geübten Reiterei
ausgeführt werden.
Es ist sehr verlockend, sich
vorzustellen, daß es die Tataren waren, die bei Tannenberg jene
osteuropäische Kriegslist anwandten, die in dem angeführten Brief
erwähnt wird, aber handfeste Beweise dafür fehlen. S. Kuczynski meint,
daß man einem ganzen Heer nicht den Befehl zu einer Schemflucht geben
kann.[33] Es ist aber nicht notwendig, daß das ganze Heer flieht, es
genügt völlig, wenn sich ein oder zwei Banner wie in der Schlacht bei
Tannenberg zurückziehen, um die Schlachtordnung der Feinde in
Verwirrung zu bringen. Daß solche Taktik möglich war, geht eindeutig
aus dem Brief hervor.
Über die Rolle der gespielten
Flucht bei Tannenberg sagt der Brief nichts Direktes aus. Doch ist die
Ähnlichkeit mit der Schilderung der Cronica conflictus so auffallend,
daß man annehmen darf, daß derselbe Vorgang gemeint ist. Die Chronik
erzählt, daß die Ordenstruppen die Schlacht für gewonnen hielten und
durch ihre Verfolgung die eigene Schlachtordnung auflösten. Die
verfolgenden Ordenskrieger wurden selber in die Flucht geschlagen und
durch die in die Flanke eindringenden Polen von ihren eigenen Männern
und Bannern abgeschnitten. Die Flucht oder das Zurückweichen muß auf
dem linken Flügel der Litauer, der dem polnischen Heer am nächsten war,
stattgefunden haben. Denn dort konnten die polnischen Kerntruppen in
den Kampf eingreifen, wie es die Chronik schildert. Der linke Flügel
des Ordensheeres beging im Kampf gegen die Litauer einen schweren
taktischen Fehler, der sofort vom Feind ausgenutzt wurde.
Die gespielte Flucht in der
Schlacht bei Tannenberg hat zur Niederlage des Ordensheeres
beigetragen. In welchem Ausmaß, kann man nicht sagen, doch wissen wir
durch den Brief, daß eine solche Taktik großen Erfolg erzielen konnte: Wann
wenne eyn huffe addir eyne schigkunge tzutrauth wirt, so sintd die
Iwthe nicht so rischlichen weddir umbe tzubrengen, wann denne eyn
ydirman wil yagen, unde waenth, das spil das sey gewunnen unde wissen
nicht, das is halp mag seyn vorloren.
1) Joannis Dlugossii seu Longini canonici
cracoviensis Opera Omnia. Hrsg. A. Przezdziecki. Cracoviae 1863—87:
Historiae Polonicae, Tomus IV, Liber XI. Cracoviae 1877. S. 54 ff. —
Für die freundliche Hilfe bei der Übersetzung des vorliegenden
Aufsatzes dankt der Vf. cand. phil. Rita Podoll.
2) J. Caro, Geschichte Polens. Bd III, Gotha 1869. S. 323.
3) Stanisław Kujot, Rok 1410. Wojna. [Das Jahr 1410. Der
Krieg.] In: Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu. Bd 17, Toruń
[Thorn] 1910. S. 154—55.
4) Karol Szajnocha, Jadwiga i Jagiełło. Dzieła Karola
Szajnochy. [Hedwig und Jagiełło. Werke von Karol Szajnocha.] Bd 8,
Warszawa [Warschau] 1877. S. 93.
5) Lotar Weber, Preußen vor 500 Jahren. Danzig 1878. S. 647, Anm. 2.
6) Stefan Kuczyński, Wielka wojna z Zakonem Krzyżackim w
latach 1409—1411. [Der große Krieg mit dem Deutschen Ritterorden in den
Jahren 1409-11.] l. Aufl. Warszawa 1955; 2. Aufl. Warszawa [Warsćhau]
1960. In der 2. Aufl. bes. S. 31 ff.
7) Cronica conflictus Wladislai regis Poloniae cum
cruciferis. Anno Christi 1410. Z rękopisu Biblioteki Kórnickiej.
Hrsg.Z. Celichowski, Poznań [Posen] 1911. (Beste Ausgabe); vgl. auch:
Scriptores Rerum Prussicarum. Bd III, Leipzig 1866. S. 434-39.
8) J. Caro, S. 325, Anm. l.
9) F. Thunert, Der große Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden. Diss. phil. Königsberg 1886. S. 70.
10) K. Hevecker, Die Schlacht bei Tannenberg. Diss. phil Berlin 1906. S. 11 f.
11) Stefan Kuczyński, 2, AutL, S. 39; vgl. auf polnisćher
Seite auch die Untersuchungen von A. Prochaska, Długosz a Cronica
conflictus o grunwaldzkiej bitwie [Długosz und Cronica conflictus uber
die Schlacht bei Tannenberg], in: Kwartalnik Historyczny, Bd 24, H. 3/4 (1910), und Z. Celichowski (vgl. Anm. 7).
12) Henryk Łowmiański, Stefan M. Kuczyński, Wielka wojna z
Zakonem Krzyżackim w latach 1409—1411. [Der große Krieg mit dem
Deutschen Ritterorden in den Jahren 1409—1411.] Warszawa [Warschau]
1955. Rez. in: Kwartalnik Historyczny, Bd 62, H. 4/5 (1955), S. 230. —
Den Hinweis auf diese Rezension verdanke ich Herm Prof. Marian Biskup,
Thrn.
13) Stefan Kuczyński, 2. Aufl., S. 579.
14) vornehmlich in Z. Celichowskis Deutung, S. 26.
15) vgl. Anm. 14: ebenda, S. 27.
16) Stanisław Kujot, S. 155.
17) Adam Korta. Strategia i taktyka bitwy grunwaldzkiej.
[Strategie und Taktik in der Schlacht bei Tannenberg.] In: Nasza Myśl,
Miesięcznik oficerski, Nr.7—8, Liepiec-Sierpień, 1949. S. 50.
18) Stefan Kuczyński, l. Aufl., S. 294.
19) Kuczyński bezieht sich hier auf die ordensfreundlićhe
Chronik des Fortsetzers von Posilge, ed. Scriptores Rerum Prussicarum,
Bd III, S. 316: Des czoch die heydinschaft von irstin in den strit;
und von den gnadin des herrin wordin sy vor fuse weg geslagin. Und dy
Polan qwomen in czu hulfe, und wart eyn grosir stryt, und der meister
mit den synen slugin sich drystunt dorch mit macht, und der koning was
gewichen, also das dese sungen: „Christ ist entstandin". Des quomen
syne geste und soldener, als dese nu vormuet worin, und troff in mit yn
uff dy syte und dy heydin uf dy ander, und umbgobin sy, und
slugin den meister und dy grostin gebiteger und gar vil bruder des
ordins alle tot, wend sy nymant anders remetin, als der bruder und der
pferde. (Sperrung vom Vf.)
20) Stefan Kuczyński, l. Aufl., s. 295.
21) Marian Biskup, Nowe wydanie „Wielkiej Wojny z Zakonem
Krzyżackim". [Neue Auflage des „Großen Krieges mit dem Deutschen
Ritterorden".] Rez. in: Kwartalnik Historyczny, Bd 68, H. 2 (1961), S.
468.
22) Stefan Kuczyński, 2. Aufl., S. 353 ff.
23) Constantine Jurgėla, Tannenberg. New York 1961. S. 48 f.
24) E.Joachim-W.Hubatsch (Hrsg.), Regesta
Historico-Diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198—1525. Pars
I, Vol. I: 1198—1454. l. Halbbd, Göttingen 1948. Nr. 2024.
25) vgl. Abb.
26) haffe?
27) vinth ausgestrichen.
28) d.h. „Vorsatz", „Absicht".
29) E.Joachim-W.Hubatsch, Regesta: Nr. 2301 (1416, 7.
Febr.); Nr. 2490 (1717, 10. März); vgl. ferner einige undatierte, nicht
bei E. Joachim-W. Hubatsch verzeichnete Briefe: Schieblade IV, Nr. 116;
XVa, Nr. 178; LIX, Nr. 38, 47, 48; LIXa, Nr. 78.
30) Dafür spricht auch der Umstand, daß Schlochau einer der
ersten größeren Plätze war, den die Söldner nach ihrer Ankunft in
Preußen erreichten. Man kann sich also vorstellen, daß der Komtur von
Schlochau seinen Schreiber zu Verfügung stellte, um die Warnung an den
Hochmeister niederschreiben zu lassen. Dann wurde dieses Schreiben als
Anlage eines anderen Briefes an den Hochmeister geschickt; daher
erklären sich die Faltung und das saubere Papier sowie das Fehlen von
Siegel, Absenderangabe und Datum.
31) Ratschläge an den Hochmeister kamen öfter vor und wurden nicht als Überheblichkeit betrachtet.
32) Um diese Zeit ist der Begriff „geste" fließend; es
können damit sowohl Söldner wie auch Ritter gemeint sein, die auf
eigene Kosten nach Preußen gekommen waren, um für den Orden zu kämpfen.
33) Stefan Kuczynski, l. Aufl., S. 294.